Historie

Diese Seite widmet sich der Ideengeschichte der Forensischen Psychiatrie, insbesondere bedeutenden Fachvertretern.

War der deutsche forensische Psychiater Hans Szewczyk der erste moderne Profiler?

Von Stefan Orlob

Zusammenfassung

Der Begriff Profiler wird gemeinhin dem FBI zugeschrieben. Seit gut zwei Jahrzehnten gibt es eine Vielzahl von Veröffentlichungen zu dieser Thematik aus dem angloamerikanischen Sprachraum. Beschrieben wird die Tätigkeit von Psychiatern und Psychologen als Profiler in spektakulären Verbrechensfällen. In der vorliegenden Arbeit wird über einen frühen Einsatz eines forensischen Psychiaters, den namhaften Prof. Dr. Dr. Hans Szewczyk (em. Ordinarius für Gerichtliche Psychiatrie an der Charité zu Berlin) berichtet. Es handelt sich dabei nach dem Stand der Quellenanalyse um die erste wissenschaftliche Täterhypothese durch einen Psychiater. Diese wurde systematisch in kriminalistische Arbeit einbezogen. Szewczyk trug so maßgeblich zur erfolgreichen Ermittlung des Delinquenten bei.

Schlüsselwörter: Profiler, Mordermittlungen, Forensische Psychiatrie, Kriminologie, Psychiatriegeschichte

Die Eberswalder Knabenmorde

In den Jahren 1969 und 1971 ereigneten sich in der Stadt Eberswalde, zirka 50 Kilometer von Berlin entfernt, insgesamt drei grausame Knabenmorde, welche zu den spektakulärsten Straftaten der DDR-Kriminalgeschichte gehören.

Seit den frühen Nachmittagsstunden des 31. Mai 1969 wurden in Eberswalde die befreundeten 9-jährigen Schüler Mario L. und Henry S. vermisst. Bereits am Folgetag erfolgte eine erste größere Suchaktion durch Polizeikräfte vor Ort, welche jedoch ergebnislos blieb. Auch spätere groß angelegte Suchaktionen mit Suchketten führten zu keinem Ermittlungsergebnis. Dies wurde durch die Tatsache erschwert, dass die Knaben in einem Ortsteil verschwunden waren, welcher an ein großes weitläufiges Waldgebiet grenzte. Die Ereignisse verbreiteten sich sehr rasch unter der Bevölkerung, und es entstand ein erheblicher Ermittlungsdruck. Daher entschloss sich die Polizei am 12.06.1969 sogar zu einer öffentlichen Vermisstenmeldung in der Regionalzeitung “Neuer Tag”, welches für DDR-Verhältnisse eher ein Novum darstellte. Erst am Freitag, dem 13. Juni 1969, wurden die Leichname der Knaben durch Zufall von einem Forstarbeiter zirka fünf Kilometer von ihrem Wohnort entfernt im Unterholz des Waldes entdeckt. Beide Leichname lagen zirka 500 Meter voneinander entfernt, gleichsam wurden die Fahrräder, mit welchen die Jungen unterwegs gewesen waren, am Tatort aufgefunden.

Im Tatortuntersuchungsprotokoll hieß es zusammenfassend (Grieschat 1973):

  • 1. Die Leiche des einen Jungen wurde mit geordneter vollständiger Bekleidung in Rückenlage aufgefunden. Sie wies eine Stichverletzung in der Brust und eine tiefe Schnittverletzung an der linken Halsseite auf. Der Tod war auf Verbluten in Folge des Halsschnittes zurückzuführen. Das Fahrrad lag in unmittelbarer Nähe des toten Kindes.
  • 2. Die Leiche des anderen Jungen wurde in Bauchlage mit abgetrenntem Kopf aufgefunden. Der Brustbereich wies mehrere Schnittverletzungen auf. Die infolge starken Madenbefalls und Leichenfäulnis erklärbare vollständige Abtrennung des Kopfes und damit einhergehende Vernichtung eindeutiger Spuren ließen hier nur die Annahme eines tiefen Halsschnittes zu. Auffällig war bei der sonst geordneten Bekleidung die geöffnete Hosenklappe. Das Fahrrad wurde in weiter Umgebung gefunden.”

Szewczyk begab sich mit dem Gutachten auf für ihn fachliches Neuland. Bisher war in der DDR noch nie zu Ermittlungszwecken eine entsprechende wissenschaftliche Täterhypothese erarbeitet worden. In seinen Ausführungen hieß es: “Das es sich bei dem homophilen Sadisten um eine noch ziemlich junge männliche Person handeln kann, die vermutlich in geordneten, mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht asozialen Verhältnissen lebt.

Über die Ursachen des Sadismus gibt es bisher noch keine gesicherten Erkenntnisse. Der Sadismus als sexuelle Perversion ist nicht heilbar, eine Rückfallgefahr ist immer vorhanden.” Trotz des infolge des Gutachtens sich zusätzlich aufbauenden Ermittlungsdruckes blieb die weitere Fahndung erfolglos. In den Abendstunden des 9. Oktober 1971 berichteten Kinder ihren Eltern, dass ihr Spielgefährte, ein 12-jähriger Junge aus Eberswalde (es handelte sich um das gleiche an den Wald angrenzende Wohngebiet), von einem unbekannten Mann verfolgt wurde und seitdem verschwunden ist. Im Ergebnis der sofortigen Suchmaßnahmen der Volkspolizei wurde die Leiche des Kindes etwa 500 Meter von seinem Wohnort entfernt in dem angrenzenden Waldgelände gefunden. Bereits bei der ersten Inaugenscheinnahme des Fundortes lag ein Zusammenhang mit den Morden aus dem Jahr 1969 nahe. Die Leiche wies mehrere Schnittverletzungen auf und hatte ebenfalls einen klaffenden Halsschnitt.

In der Folge wurden erneut Sonderermittlungskommissionen eingesetzt. Wiederum wurde Szewczyk zu den Ermittlungen beigezogen. Er sollte anhand des neuen Materials die Täterhypothese präzisieren. Innerhalb seiner folgenden Analyse verwies Szewczyk auf Ähnlichkeiten bei den Eberswalder Mordfällen mit dem sogenannten “Kirmesmörder” Jürgen Bartsch. Mit Hilfe des Mfs beschaffte sich Szewczyk näheres Aktenmaterial aus der Bundesrepublik, welches er zur Erstellung seiner neuerlichen Täterhypothese mit heranzog.

Jürgen Bartsch war im Jahre 1967 zunächst durch das Landgericht Wuppertal wegen vierfachen Knabenmordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Nach öffentlicher Kritik namhafter Psychiater und Sexualforscher wurde das Urteil vom Bundesgerichtshof aufgehoben. In einer neuerlichen Verhandlung vor dem Landgericht Düsseldorf erhielt Jürgen Bartsch eine 10-jährige Jugendstrafe mit anschließender Unterbringung in einer Psychiatrischen Klinik. Später verstarb Bartsch während einer Kastrations-OP an einem Narkosezwischenfall.

Die Analyse der Eberswalder Tatortbefunde und der Unterlagen über den Fall Bartsch veranlassten Szewczyk zu der Hypothese, dass es sich um einen ähnlichen Täter handeln könnte. Aufgrund seiner eigenen Arbeiten über Sadismus (1966) und der Tatsache, dass Bartsch zwischen 1960 und 61 bereits mehrfach durch sexuell-sadistische Handlungen an Jungen polizeibekannt aufgefallen war, bevor er 1966 den ersten Mord an einem 11-jährigen Jungen beging, veranlassten Szewczyk zu der Hypothese, dass auch der Eberswalder Täter vor und zwischen den Mordfällen Kinder belästigt haben dürfte. Diese Vorfälle waren jedoch möglicherweise aus Angst oder Scham nie zur Anzeige gekommen bzw. als solche nicht wahrgenommen worden, weil sie im Versuch stecken blieben. Hieraus leitete Szewczyk gemeinsam mit dem Kriminalisten Grieschat (1973) die Ermittlungsstrategie ab, eine groß angelegte Befragung von Kindern betreffenden Alters in den Schulen in Eberswalde, insbesondere im Stadtteil Westend, durchzuführen. Durch kleine Mitarbeitergruppen des Stabes von Szewczyk sollten die Kinder psychologisch einfühlsam nach betreffenden Vorfällen befragt werden. Alle Daten aus der Ermittlung wurden computertechnisch verarbeitet, auch dies war ein Novum. Diese Strategie sollte sich als richtig erweisen. Am 11. November 1971 berichtete innerhalb der Befragung ein Junge über einen sexuellen Übergriff durch den vermutlichen Mörder im Jahre 1968 – ein Jahr vor den ersten Mordfällen. Da der Junge den vermeintlichen Täter im Stadtbild häufig wiedergesehen hatte, konnte er auch einen Hinweis auf die Wohnung des Täters geben. Am nächsten Tag wurde in dem benannten Haus Erwin Hagedorn, damals 19 Jahre alt, durch die Kripo zunächst zur Polizeidienststelle mitgenommen. Bereits kurze Zeit nach seinem dortigen Eintreffen gestand er ohne äußerlichen Zwang die Morde an den Knaben und berichtete detailreich über sämtliche Abläufe.

Nach Abschluss der Ermittlungen bestätigte sich in erschreckender Weise die Hypothese Szewczyks bezüglich der Duplizität der Fälle. Wie Bartsch hatte Hagedorn im Jugendalter die ersten Morde begangen. Auch bei ihm ging dem eine längere Vorlaufphase mit sich zuspitzenden und immer mehr sadistisch-ausformenden Phantasien einher. Hagedorn hatte sich in der Nähe des Wohngebietes aus einem Bretterverschlag eine Bude gebaut, welche er seine “Folterkammer” nannte. Hierein hatte er mehrfach Jungen gelockt, sie sexuell belästigt und wiederholt auch mit seinem Messer geritzt. Auch dies zeigte Parallelitäten zum grauenvollen Bunker von Bartsch. Hagedorns kindliche Entwicklung wies zwar weniger formale Auffälligkeiten auf, wie die von Jürgen Bartsch, welcher als Adoptivkind wiederholt in Heimen längere Zeit verbracht hatte. Aber auch Erwin Hagedorn wuchs in einem wenig empathischen, sterilen und emotional kühlen Elternhaus auf. Auch er hatte kaum Kontakte zu Gleichaltrigen und seine Eltern verfolgten das Streben, aus ihm "etwas Besonderes” zu machen. Er war ein Einzelgänger, äußerlich unauffällig und in der Schule unter den Mitschülern kaum sozial integriert. Auch im psychosexuellen Bereich zeigen sich frühe Auffälligkeiten. Bereits längere Zeit vor den Morden an den Kindern suchte Hagedorn Befriedigung seiner sadistisch¬sexuellen Phantasien durch und während des Tötens von Tieren.

Rückschauend hatte Szewczyk mit seiner Täterhypothese verlässliche Suchkriterien vorgegeben. Insbesondere seine Schlussfogerung aus seiner Sadismusforschung (1966) und der Analyse des Bartsch-Falles, dass der Täter bereits vor dem ersten Mord erste sadistisch-sexuelle Handlungen begangen haben musste, führten zur Ergreifung Hagedorns.

Hans Szewczyk (1923 -1994) – Lebensdaten

Der Name von Hans Szewczyk ist eng mit der Entwicklung der Fachgebiete der forensischen Psychiatrie und Psychologie sowie der Medizinischen Psychologie in der DDR verbunden. Hans Szewczyk studierte zunächst Medizin und begann in den letzten Semestern gleichzeitig ein Psychologiestudium. Nach dem Studium der Medizin und Psychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin war er dort bis zu seiner zweiten Promotion Assistent am Institut für Psychologie bei Kurt Gottschaldt und wechselte dann in die Nervenklinik der Charité, seiner bleibenden Wirkungsstätte. Hier habilitierte er sich bei Karl Leonhard für das Fachgebiet Psychiatrie. Ab 1961 wurde ihm die Leitung der Abteilung für forensische Psychiatrie und Psychologie dieser Klinik übertragen. Im Jahre 1966 las er als erster eine Vorlesung “Psychologie für Mediziner und Stomatologen”, die damals in der DDR im vorklinischen Studienabschnitt eingeführt wurde. Unter seiner Federführung wurden dann die verbindlichen Lehrprogramme für das hier ab 1976 als Medizinische Psychologie im klinischen Studienabschnitt vermittelte Lehrgebiet erarbeitet. Er habilitierte sich mit einem psychosomatischen Thema. 1974 auf den Lehrstuhl für Forensische Psychiatrie berufen, leitete er bis zu seiner Emeritierung 1988 in Personalunion die Abteilung für Gerichtliche Psychiatrie und Psychologie sowie den Lehrbereich Medizinische Psychologie. Inhaltlich versuchte er theoretisch und praktisch bei der forensischen Begutachtung diejenigen Faktoren zu wichten, die in der Abhängigkeit vom Entwicklungsstand einzelner Sozialbereiche, organischer Voraussetzungen und der Ausprägung der konkreten Persönlichkeit, ihre Erlebens- und Verhaltensweisen bestimmten. In dieses Denken versuchte er in seinen späteren Arbeiten neben dem Täter auch das Opfer mit einzubeziehen.

Hans Szewczyk war maßgeblich an der Neufassung des Strafgesetzbuches der DDR 1968 beteiligt. Dabei flossen insbesondere seine Vorstellungen zur Rehabilitation straffällig gewordener Jugendlicher mit ein. Als Vorsitzender der Sektion Klinische Psychologie, später Psychologie in der Medizin, der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR, hat er in mehr als 25 Jahren immer wieder Ärzte, Psychologen und Soziologen auf Lehrgängen, Arbeitstagungen, Kongressen und Symposien mit internationaler Beteiligung im Interesse einer Psychologie des Patienten und seiner Behandlung zusammengeführt. Die Gesellschaften für Ärztliche Psychotherapie und für Psychologie der DDR verliehen ihm 1988 die Ehrenmitgliedschaft. Hans Szewczyk war einer der Pioniere der Medizinischen Psychologie, deren Namen mit der Geschichte des Faches verbunden bleiben werden.

Bemerkenswert sind auch seine frühe Anwendung von Methoden der modernen Datenverarbeitung im Bereich statistischer Forschungen.

Er hat zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten auf den Bereichen der Forensischen Psychiatrie und Psychologie sowie der Medizinischen Psychologie herausgegeben und editiert. So veröffentlichte er 21 Monographien, sechs Lehrbücher und über 250 Originalarbeiten. Zu seinen bekanntesten Schriften gehört “Kriminalität und Persönlichkeit” und “Der Alkoholiker”. Hans Szewczyk führte mit seinen Mitarbeitern 139 Akademiker zum Diplom oder zur Promotion in seinem Fachbereich.

Hans Szewczyk – der erste Profiler?

Nähert man sich dieser Frage, so ist zunächst eine wissenschaftshistorische Begriffsklärung vorzunehmen.

Der Begriff des Profiler geht zurück auf die Tätigkeit des Erstellens von psychologischen Täterprofilen. Als Experten für Täter sollen Profiler da einspringen, wo die Experten für Taten nicht weiterkamen. Dies ist eine Ermittlungsmethode, welche insbesondere in den USA und Großbritannien bei der Suche nach Serienmördern regelmäßig zur Anwendung kommt. Aus der Tätigkeit “profiling of offenders” wurde der Begriff des Profilers gebildet.

Inhalt des Profilerkonzeptes des amerikanischen FBI war die Entwicklung eines Fragebogens, den sog. “crime analysis report”, in dem alle Informationen über ein Verbrechen erfasst und an einer zentralen Stelle gesammelt und bearbeitet werden. Der Report enthält 186 Fragen über allgemeine Angaben über das Verbrechen (“crime classification”: Mord, versuchter Mord, undentifizierter Toter, usw.) Informationen über das Opfer (Name, Beschreibung, zuletzt gesehen am ..., Wohnort, Alter, Narben, Tätowierungen, Kleidung usw.) und Informationen über den Täter (sofern bekannt). Das erste Problem besteht also zunächst darin, Taten miteinander in Beziehung zu setzten und evtl. Gemeinsamkeiten zu erkennen. Erst dann kann als nächster Schritt die Erstellung eines sog. Täterprofils erfolgen.

Noch 1995 habe es weniger als 20 Profiler weltweit gegeben, deren Arbeit aber allgemein anerkannt sei. Herausragende Profiler sind so z.b. John Douglas und Robert K Ressler (USA) und Paul Britton (GB) welche auch durch verschieden Veröffentlichungen hervorgetreten sind. Allgemein wird so auch das FBI als Ausgangspunkt dieser psychologisch untermauerten Ermittlungstechnik angesehen, welche sich in der Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen zehn Jahren erst sehr langsam über das Bundeskriminalamt auf die Landeskriminalämter ausgedehnt hat. Um so erstaunlicher erscheint es, dass Hans Szewczyk bereits 1971 diese Methode erfolgreich angewandt hat. Bedeutungsvoll ist dabei ebenfalls, dass er sich in der Datenerfassung bereits ebenfalls computergestützter Methoden bediente. Als Profiler im engeren Sinne kann man ihn sicherlich noch nicht bezeichnen. Er selbst hat seine Methodik der Täterhypothese nicht publiziert, auch erfuhr sie keine spätere Verfeinerung oder Weiterentwicklung durch ihn. Hierzu wäre es auch notwendig gewesen, daß Szewczyk in ähnlicher Weise häufig tätig gewesen wäre. Von kriminologischer Seite arbeitete jedoch Herbert Grieschat im Jahre 1973 den Mordfall nochmals auf. Von diesem war auch maßgeblich die Idee ausgegangen, einen forensischen Psychiater mit der Täterprofilerstellung im Fall Hagedorn zu beauftragen. Er unterstrich in seiner Veröffentlichung:

“c) Die Erarbeitung einer ermittlungsdienlichen Täterhypothese

Die Erarbeitung einer Täterhypothese als Grundlage für die Einleitung zielgerichteter Ermittlungen zur Feststellung Tatverdächtiger war zweckmäßig. Hiermit wurden Experten der Gerichtspsychiatrie und -psychologie beauftragt. Die Täterhypothese enthielt die Beschreibung eines Mannes, der sowohl sadistische als auch homosexuell-pädophile Charaktereigenschaften hat. Sie war so gehalten, dass die verschiedenen für möglich gehaltenen Typen hierin vereinigt wurden. Dabei wurden Hinweise für die Persönlichkeitsstruktur, die Entwicklung, das soziale Milieu und Verhaltensweisen des unbekannten Täters gegeben.”

Nach dem Stand der Quellenanalyse hat der Autor bis jetzt keine frühere Beschreibung der Erstellung einer wissenschaftlichen Täterhypothese (=Profiling) gefunden. Mit Sicherheit gilt dies uneingeschränkt für die deutschsprachige Fachliteratur.

Begutachtung, Prozeß und Urteil

Nach Beendigung der Ermittlungen im Dezember 1971 beauftragte Staatsanwalt Dr. Kuschel, Szewczyk und Ochernal mit der Erstellung eines forensisch-psychiatrischen Gutachtens über Hagedorn. Zum Zwecke der Begutachtung wurde Hagedorn in die Haftanstalt Berlin-Rummelsburg überstellt und von dort fast täglich in die Charité gebracht. Der Zweitgutachter Ochernal, welcher seinerzeit Leiter der zur Justiz gehörigen Klinik in Waldheim war, führte die Begutachtung ebenfalls in Berlin durch. Auch im Rahmen der Begutachtung war Hagedorn sehr auskunftsbereit und versuchte mit erstaunlicher Offenheit und Redegewandtheit seine Taten zu erklären. Auch hier waren wiederum seine detailreichen Schilderungen auffällig, so dass der Verdacht aufkam, dass er innerhalb der Begutachtung nochmals lustvoll seine Taten durchlebte. Im Rahmen der forensischen Begutachtung wurden auch genetische Untersuchungen und andere paraklinische Werte erhoben. Szewczyk versäumte es auch nicht, mit den Eltern Hagedorns zu reden. In den Gesprächen mit diesen wurde deutlich, dass er in der Kindheit kaum körperliche Nähe und Zuwendung erfahren hatte. Sexualität wurde in der elterlichen Häuslichkeit tabuisiert. Zwar hatte die Mutter später den Verdacht, dass ihr Sohn homosexuell sein könnte, doch wohl auch zu dieser Thematik kein offenes Gespräch geführt.

Nach eingehender Persönlichkeitsdiagnostik bescheinigte Szewczyk, dass es sich bei Hagedorn um eine hoch auffällige Persönlichkeit mit einem stark ausgeprägten Geltungsstreben, Minderwertigkeitskomplexen, geringer Fähigkeit, Bindung einzugehen, flachen Gefühlsreaktionen, sowie nur geringer Fähigkeit zum Mitleid, Liebe und Hass mit anderen, handelte. Andererseits bescheinigte er dem Täter aber auch, dass er fähig gewesen wäre, sich willentlich in sadistische Erregung hinein zu steigern und diese zu steuern. So bescheinigte er Hagedorn keine zu einer Minderung der Zurechnungsfähigkeit führenden “schwerwiegende abnorme Persönlichkeitsentwicklung mit Krankheitswert”. Auch Ochernal kam in seiner Begutachtung zum gleichen Ergebnis.

Am 09. Mai 1972 wurde vor dem 1. Strafsenat des Bezirksgerichtes Frankfurt (Oder) das Verfahren gegen Erwin Hagedorn eröffnet. Nach drei Verhandlungstagen kam das Gericht unter Vorsitz des Bezirksgerichtsdirektors Nassaroff zum Schuldspruch unter Zuerkennung einer unbeeinträchtigten Zurechnungsfähigkeit. Erwin Hagedorn wurde am 15. Mai 1972 wegen mehrfach vollendeten (in drei Fällen) und mehrfach vorbereiteten Mordes (in acht Fällen) zum Tode verurteilt. Nach Einlegung der Berufung bestätigte der 5. Strafsenat des Obersten Gerichtes der DDR das erst instanzliche Urteil. Dabei spielte keine Rolle, dass Hagedorn zumindestens bei der ersten Mordtat erst 17 Jahre alt war und auch in der DDR keine Todesstrafe für Jugendliche gab.

Nachdem alle juristischen Mittel ausgeschöpft waren, wurde auch die letzte Möglichkeit zur Abwendung der Vollstreckung der Todesstrafe von den Eltern und dem Anwalt des Beschuldigten nicht ausgelassen. Im Sommer 1972 kam das Gnadengesuch auf den Tisch des damals bereits 78-jährigen Vorsitzenden des Staatsrates, Walter Ulbricht. Viele Beteiligte des Ermittlungsverfahrens und des Prozesses glaubten, dass Ulbricht aufgrund der Jugend des Täters Gnade vor Recht ergehen lassen würde. Dem war nicht so und Walter Ulbricht lehnte das Gnadengesuch ab. Am 14. September 1972 ging Hagedorn von Cottbus auf Transport in die Haftanstalt Torgau. Am 15. September wurde er von Torgau in die Strafvollzugsanstalt Leipzig gebracht, wo er im Hinrichtungstrakt gegen 10:00 Uhr mit einem Nahschuss im Nackenbereich hingerichtet wurde. Damit fand der Fall aber nur juristisch seinen Abschluss. Durch die Publikation von Herbert Grieschat im “Forum der Kriminalistik” im Jahre 1973 wurde der Kriminalfall über die Grenzen der DDR hinaus wahrgenommen. Der bekannte Kriminalschriftsteller Friedhelm Werremeier recherchierte daraufhin und besorgte sich auf abenteuerliche Weise große Teile des Aktenmaterials, so auch das Gutachten Szewczyks. 1985 publizierte er unter dem Titel “Der Fall Heckenrose” die Kriminalgeschichte in der damaligen Bundesrepublik. Das Nachwort unter dem Titel “Plädoyer für einen Mörder” schrieb der bekannte Strafverteidiger Rolf Bossi, auch einer der Verteidiger Jürgen Bartsch.

So verdienstvoll die Rolle Szewczyks in den Ermittlungsarbeiten im Fall Hagedorn war, um so fragwürdiger ist seine Teilnahme am Prozess als Gutachter. Selbst wenn man ihm keine bewusste Befangenheit vorwerfen möchte, so muss doch angenommen werden, dass seine Objektivität durch die intensive Teilnahme an den fast dreijährigen Ermittlungsarbeiten gegen Hagedorn getrübt worden war. Er hatte sich dabei intensiv mit Tatortbeschreibungen, Spuren und Leichenbefund auseinandergesetzt und stand, wie die ermittelnden Kriminalisten, permanent unter äußerlichem, insbesondere öffentlichem Druck. Nun sollte er sich mit dem Täter, welchen sie fieberhaft gesucht hatten, unbefangen auseinandersetzen. Die selben Zweifel müssen auch bezüglich des Zweitgutachters, Dr. Ochernal, angemeldet werden. Auch dieser war während der Ermittlungsarbeiten wiederholt konsultiert worden, wie auch der Eberswalder Psychiater Barylla. Es ist auch anzunehmen, daß Szewczyk unter erheblichen öffentlichen Druck stand. Der Fall war herausgehoben aus der “DDR-Normalität”, im Gegensatz zu den vielen anderen Kriminalfällen auch in der Presse publiziert worden. So könnte sich Szewczyk wie Professor Ernst Schultze bei der Begutachtung Haarmanns 1923/24 “wider besseren Wissens – dem Druck der öffentlichen Erwartung” gebeugt haben.

Literaturverzeichnis

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